Atmen

dietintenfisch ©

Jetzt lieg ich hier, unfähig zu schlafen und denk an dich. Deine Worte klingen in meinen Ohren nach. Ich sei der wohl traurigste Mensch auf der Welt, hast du gesagt. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt. Zerstreut, sensibel, pragmatisch. Das bin ich. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Fisch und Krebs, das heißt zweimal so feinfühlig für Schwingungen, Gefühle, Stimmungen, Worte, Situationen und Menschen. Ich bin oft sehr allein mit all den Dingen, die ich fühle. Ich kann Gefühle nicht einfach abschütteln, ich muss mich an ihnen mühevoll abarbeiten, sie tiefgründig analysieren, bis meine Augen verweint und meine Hand verstaucht ist. Tue ich das nicht, nagt diese Negativität, dieser Frust an mir, bis ich daran zu Grunde gehe. Ich bin zäh. Mein Ableben würde wohl einige Zeit dauern, so wie bei Boromir, den kriegt man auch nicht so leicht tot. Aber schließlich würde das Dunkle Oberhand gewinnen und mich mit sich reißen. So gesehen bin ich wohl wirklich der traurigste Mensch der Welt. Schön, dass es dir aufgefallen ist. Du musst sehr genau hingeschaut haben. Das tun nicht viele. Wir sind so hastig geworden. Keine Zeit zum Denken und Fühlen, nur noch zum Funktionieren leben wir. Kein Interesse an einem Gespräch, ab dem Zeitpunkt an dem es aufhört an der Oberfläche zu kratzen und ein Loch in die Tiefe zu graben beginnt. Keine Geduld für Denkpausen. Ich bin nicht traurig, ich schreibe, antworte ich dir und verschieße damit schon wieder mein ganzes Pulver auf einmal. Das Schreiben definiert mich, hält mich bei Laune und Verstand, hält mich am Leben. Es ist ein Zwang, eine ungesunde, giftige Liebe. Meine Klarheit schüchtert dich ein. Oder ist es meine Leidenschaft? Meine Fähigkeit dir zu sagen was du fühlst, bevor du es fühlst? Noch nie hat mir jemand so tief in meine Seele geschaut, wie du gerade eben. Weißt du eigentlich, wie unheimlich das ist? Weißt du eigentlich, wie unwiderstehlich dich das macht? Irgendwo hat jemand einen Fernseher, oder ein Radio eingeschaltet. Ich höre ein Brummen durch die Wand und den Regentropfen beim Fallen von der Dachrinne auf das Geländer zu. Der Schlaf hat mich noch immer nicht zu sich geholt. Ich wage es nicht einen Blick auf die Uhr zu werfen. Morgen muss ich früh auf, wahrscheinlich schon in wenigen Stunden. Aber anstatt zu schlafen, schlägt mein Gehirn lieber Purzelbäume, besteigt Achttausender, fährt mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Irkutzk, Ulanbator und Peking; denkt, denkt, denkt. Hört niemals auf. Die Worte sprudeln aus mir. Ich bin ein Springbrunnen ohne Ausschaltknopf; nur steh ich in der Wüste, Kilometer entfernt von der nächsten Oase. Ich sag dir das, beschreib dir das alles so detailliert und, und du verstehst mich nicht. Du stehst einfach da und bist fasziniert; du lässt dich überschwemmen von der Lawine, die ich bin. Ich schreibe, weil ich muss.

Vielleicht musst du das jetzt. Warte mal, bis du so alt bist wie ich. Man verändert sich doch ständig.
Ich, ganz aufgebracht, gebäre dir inne zu halten und mir dein Gehör zu schenken. Das Schreiben ist für mich keine Phase, keine Laune, kein plötzlicher Wetterumschwung. Es ist ich und ich bin es. Ich wurde geboren, um zu schreiben. Ich schreibe jetzt, morgen und immer.
Du räusperst dich, fährst dir durch die Haare und sagst: Niemand kann heute wissen, was sie in zwanzig Jahren machen werden, wofür sie sich interessieren werden, oder worüber sie sich dann den Kopf zerbrechen werden. Das ist einfach nicht möglich. Dafür ist das Raum-Zeitkontinuum zu stark.
Lass mich in Ruhe mit deinem Raum-Zeitkontinuum und hör mir endlich zu! Vielleicht willst du das nicht hören, weil es dir Angst macht, oder dir fremd ist, oder alles übersteigt, das du dir vorstellen kannst. Für mich ist schreiben wie atmen. Kannst du dir vorstellen, dass ich weiter lebe ohne zu atmen? Also, so lange ich lebe, muss ich auch atmen und, um atmen zu können, muss ich schreiben.

1 Kommentar

  1. Du schreibst mit der Intensität eines Lawinenhunds, wenn er nach Verschütteten buddelt. Zugleich willst Du oder will die Ich-Erzählerin endlich auf den beruhigenden Gedanken stoßen, auf dem sie ihren Kopf betten und einschlafen kann, das Bild des Atems führt zu der ersehnten Beruhigung, auch beim Leser übrigens. Dein Stil ist graziös und fließend, man sieht einer Ballettänzerin bei ihrem täglichen Training zu. Der Ich-Erzählerin mangelt es aber an Selbstironie. Wenn sie sich etwa als „zerstreut, sensibel, pragmatisch“ beschreibt, so müsste sie zumindest in diesem doch etwas selbstherrlichen Ton fortfahren, diesen forcieren, damit eine Distanz entsteht zwischen Ich-Figur und Autorin. So wirkt die Ich-Figur doch zu sehr in sich versponnen und der ganze Text ein wenig zu „privat“ und wie zur Selbsttherapie. ©

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