Melanie Moosbrugger

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Sie winkte ihrem Mann und ihren Kindern, die auf dem Schiff geblieben waren und jetzt davon fuhren. Sie lachten und winkten und schickten ihr Luftküsse und sie lachte und schickte ihnen Küsse zurück. Sie winkte auch noch, als sie kleiner und kleiner wurden; sich immer weiter von ihr entfernten. Da war ein Geräusch. Es klang wie das Tosen des Meeres, nein, es musste der Motor der Fähre sein, die sich in Bewegung gesetzt hatte. Nein, es war-. Mit einem Ruck saß sie aufrecht in ihrem Bett und stieß sich den Kopf an ihrer Nachttischlampe an. Das Geräusch kehrte wieder, gerade noch so laut im Traum, war es jetzt nicht mehr als ein leises Klopfen an ihrer Türe. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Wer klopfte um 4h30 bei ihr an? Einen Moment überlegte sie, sich einfach wieder hinzulegen aber das Klopfen, in seiner leisen Beharrlichkeit, hörte nicht auf. Sie schlug also die Decke von sich und stand auf. Sie tappte im Dunkeln durch die Wohnung und rieb sich den Kopf, der noch vom Zusammenstoß mit der Lampe schmerzte. Sie fröstelte, an den Fußknöcheln ganz besonders. Auf dem Weg zur Wohnungstüre fielen ihr mehrmals die Augen zu, als sie die Türe öffnete, musste sie ein Gähnen unterdrücken.

„Ja?“, fragte sie etwas unfreundlicher als gewollt.

„Verzeihung. Frau Glass? Ich wohne in Nummer drei. Moosbrugger mein Name, Melanie Moosbrugger.“

Die Stimme der jungen Frau, die im Pyjama im Stiegenhaus stand, war samtig.

„Ich äh, benötige Ihre Hilfe. Mir ist bewusst, dass dies ein ausgesprochen unangenehmer Zeitpunkt ist. Es handelt sich um einen Defekt, ich meine um ein defektes Gerät, präzise gesagt, in meiner Wohnung. Ich habe Nudeln gekocht und ich vergaß den Dunstabzug einzuschalten und das hat den Rauchmelder eingeschaltet, nun ja, er piepst seit zehn Minuten und äh, ich konnte ihn nicht ausschalten, oder die Batterie entfernen, weil meine Körpergröße nicht ausreicht, um hin zu gelangen. Und dann ist mir eingefallen, dass Sie, Frau Glass, ein ausgesprochen großgewachsener Mensch sind und da dachte ich, ich bitte Sie, so von Nachbarin zu Nachbarin.“

„Moment“, sagte Frau Glass und schloss die Türe.

Sie streifte sich Schuhe über, verstaute ihren Schlüssel in der Tasche ihrer Pyjamahose und betrat das Stiegenhaus. Der Lärm war schon im zweiten Stock zu hören, vom Erdgeschoss hinauf, er vertrieb ihre Schläfrigkeit mit einem Mal.

„Mich wundert, dass davon noch niemand aufgewacht ist“, sagte Frau Glass und stieg die drei Stockwerke hinunter, als wäre sie vor jemandem auf der Flucht.

Melanie Moosbrugger war einige Sekunden langsamer. Das Piepsen war mittlerweile so laut, dass Frau Glass einen Moment zögerte, ob sie wirklich die Wohnung ihrer Nachbarin betreten wollte, ihre Ohren waren ihr teuer, aber dann besann sie sich eines Besseren, sie war schon aufgestanden, dann würde sie auch tun, wozu sie gekommen war. Sie legte ihre Hand auf die Klinke und drückte energisch, aber die Türe blieb unbeweglich.

„Einen Augenblick bitte. Ich habe die Pforte versperrt.“

Frau Glass sah ihre Nachbarin an, die nach ihrem Schlüssel in ihrer Hosentasche griff, vielleicht zum ersten Mal richtig, und dachte sich: Wie kann man so jung sein und sich so vornehm ausdrücken? Melanie klapperte mit dem Schlüssel herum und sperrte die Türe auf, sie traten ein.

„Die Küche ist hier zu ihrer Linken“, erklärte Melanie Moosbrugger und Frau Glass begab sich in die Küche, wo der Feuermelder auch schon sein unerträgliches Piepsen von sich gab.

„Ja ja ist ja schon gut“, sagte Frau Glass während sie den Küchentisch unter den Feuermelder schob, auf ihn stieg und sich beinahe den Kopf an der Decke angeschlagen hätte, wenn Frau Moosbrugger nicht gerade noch „Obacht“, gesagt hätte.

Mit einer flinken Handbewegung hatte Frau Glass den Feuermelder von der Decke entfernt und das elendige Piepsen war verstummt. Einen Moment gab es nur Stille.

„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte Melanie, während Frau Glass vom Tisch stieg.

„Was haben Sie da?“

„Bier.“

„Ich könnte ein Bier vertragen. Aber nicht auf leeren Magen.“

„Danke“, sagte Melanie.

„Ach“, sagte Frau Glass und winkte ab.

Melanie stellte zwei Bier und Erdnüsse auf den Tisch.

„Ich mein das ernst, das war absolut Rettung in letzter Sekunde. Der Frau Birnbaum bin ich nämlich ein Dorn im Auge. Einmal war ich zu spät dran mit der Miete, dann habe ich angeblich zu laut Musik gehört und wenn sie das jetzt auch noch mitbekommen hätte, dann hätte sie mich wahrscheinlich der Wohnung enthoben. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann wäre hier nämlich ihre Nichte eingezogen. Aber die ist nach Australien ausgewandert.“

Frau Glass setzte sich auf einen der Sessel und sah sich um. Die Wohnung verströmte eine merkwürdige Atmosphäre. Es war extrem sauber, fast als wohnte niemand hier, bis auf ein paar einzelner Socken, die fast schon absichtlich verstreut wirkten, wie als ob jemand versucht hatte, die Wohnung bewohnter erscheinen zu lassen.

„Sagen Sie Frau Moosbrugger, was sind Sie eigentlich von Beruf?“

„Ich bin Verkäuferin. Und Sie?“

„Ich arbeite schon lange nicht mehr.“

„Aber ich war einmal Kapitänin auf einem Kreuzfahrtschiff“, fügte sie hinzu.

Melanie öffnete die Bierflaschen, schob eine zu ihrer Nachbarin und griff in die Dose mit den Erdnüssen.

„Leben Sie allein?“, fragte Melanie.

Frau Glass nickte.

„Sie?“

„Ich habe eine feline Mitbewohnerin namens Berta.“

Frau Glass nickte und nahm einen großen Schluck Bier. Hier war keine Spur von einer Katze. Vielleicht in einem der anderen Zimmer? Sie beobachtete ihre Nachbarin. Melanie saß kerzengerade, ihre Unterarme lagen auf dem Tisch, ihr Bier hatte sie nicht angerührt. Sie hatte dicke schwarze Ringe unter den Augen.

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